Description
Soso. Sentino ist also deutscher Hip Hop. Als ob daran irgendjemand gezweifelt hätte. Niemand kann und möchte ihm seine Position absprechen: Sentino ist deutscher Hip Hop wie Advanced Chemistry oder Cartel, wie Curse oder Dendemann, wie Tone, Kool Savas, Eko, Raptile oder Fler. Schon Kollege Gässlein attestierte Sentino an anderer Stelle „großartige Technik, Flow und auch Ideen“. Wer würde sich da nicht geschmeichelt fühlen?
Lange genug hat die Welt auf Sentinos ersten Rundumschlag in Album-Form warten müssen. Diverse Querelen ermöglichten letztlich allerdings eine amtliche Reifezeit: Kein Schnellschuss pfeift einem diesmal um die Ohren, wohl aber eine sorgfältig zubereitete Selektion ohne Füllmaterial. Sentino spuckt 20 vollwertige Tracks ins Mikrofon, ohne sich mit Intro-, Outro oder Skit-Gedöns aufzuhalten. Bei fast eineinhalb Stunden Laufzeit gehört Geldschneiderei nun wahrlich nicht zu den Vorwürfen, die sich Sentino gefallen lassen muss.
Was dann? Nun, bei einem derart talentierten Rapper hätte ich mir eine noch größere Themenvielfalt gewünscht. Battlestyles und am laufenden Meter abgefeuerte Punchlines gehören dazu – auch das ist deutscher Hip Hop, keine Frage. Doch wollte ich jedem Battle-MC glauben, dass mit seinem Betreten der Bühne ein neuer König das Land regiert, ich wäre Diener vieler Herren. „Ich hör‘ 1000 Demos, alles klingt gleich“, bemängelt Sentino in „Keine Kunst„. Stimmt. Zeilen, die inhaltlich nichts auffahren als (sinngemäß) „du hast es nicht drauf, du bist scheiße, aber ich kann meinen Schwanz fünfmal um dein Haus wickeln“ langweilen mich in kürzester Zeit sogar dann zu Tode, wenn sie technisch versiert vorgetragen werden.
Auch, wenn Ilan für „Berlin Berlin“ ein wahres Synthie-Brett zusammen schustert: Ich hätte auf weiteres Selbst-Gehype („Jäger und Sammler“), noch eine Dicke-Hose-Nummer („Der Don„) oder die nächste Werbeveranstaltung für protzige Ketten oder Paul-Wall’sche Kauleistenverkleidungen („Twinkle Twinkle„) also gut verzichten können. Aber, Bitch! Ich bin doch der King! Durchaus möglich, dass sich in dieser Beziehung der deutsche Hip Hop an mir vorbei entwickelt hat.
Aber sei’s drum, auch mir wird es hier ordentlich besorgt – und zwar immer dann, wenn Sentinos Begabung die engen Grenzen des dumpfen Herumgeprolles sprengt. Dann nämlich, wenn er hinter die Fassade blicken und eine Ahnung von der dort lauernden Gefühls- und Gedankenwelt erhaschen lässt, läuft er zu wahrer Größe auf. Sti liefert düstere Wucht und nervenzerfetzende Streicher, wenn sich in „Judas“ geballte Enttäuschung entlädt. Mehr flüssig gereimte Selbstreflektionen à la „Die Welt Steht Kopf“ oder „Jahre Sind Tage„, und auch ich steh auf, für die Berliner Weiße mit Schuss. In beiden Fällen fangen Beats aus dem Hause Brisk Fingaz die Stimmung ein: Wie ein Herzschlag pumpt der Bass, jammernde Gitarren lassen die Melancholie aus jeder Note triefen.
Ganz sachte wird’s in „Danke Dir Mom„: An und für sich sind Danksagungen an die Frau Mama seit Tupac kaum noch auszuhalten. Wenn allerdings ein fluffig vor sich hin rappender Könner aus seinem Privatleben plaudert und dabei so gar nicht aufgesetzt sentimental rüberkommt, dann hört man sich auch die x-te Lobhudelei noch gerne an, selbst wenn der Muttertag schon deutlich zurück liegt. Sehnsuchts- und hoffnungsvoll zugleich klingt es in „Horizont Aus Gold„: Roe Beardie lässt musikalisch die Sonne durch die düstere Wolkendecke brechen, die von Brisk Fingaz in „Vater Staat“ aufgeschichtet wurde: Sentino fasst hier die Schräglage des Systems in messerscharfe Worte, die nur einer, der seine Sprache beherrscht, derart im Griff hat.
Sprache? „Die gehobene Klasse hört uns reden und denkt / Wir hätten Tourette-Syndrom und seien ein bisschen beschränkt.“ Versprühte „Ich Bin Deutscher Hip Hop“ auf voller Länge auch nur einen Bruchteil des Wortwitzes, der in „Gehobene Klasse“ aus jeder Zeile hüpft: Mein Gesamturteil wäre signifikant positiver ausgefallen. So aber rechne ich damit, dass man meint, mir Bescheid stoßen zu müssen. Ich stell‘ Kekse und Tee bereit – und lass‘ mir dann gerne persönlich erklären, was in Gottes Namen ein Schwanzgesicht sein soll.
Reviews
There are no reviews yet.